Freitag, 30. September 2011

Text - 21. Kolloquium der IGPP, Brief an unsere Gäste und uns selbst

Wenn es die Funktion des Vorurteils ist, den urteilenden Menschen davor zu bewahren, jedem Wirklichen, das ihm begegnet, offen sich exponieren und denkend gegenübertreten zu müssen, so erfüllen die Weltanschauungen und Ideologien gerade diese Aufgabe so gut, dass sie vor aller Erfahrung schützen, da in ihnen ja angeblich alles Wirkliche irgendwie vorgesehen ist.


(Hannah Arendt)


Offener Brief an unsere Gäste und uns selbst


Das 21. Kolloquium der IGPP – ein Begegnungsraum für die so nah verwandten Berufsgruppen der Psychotherapeuten und Philosophischen Praktiker! Doch ist es uns gelungen, einen solchen Raum zu schaffen und ihn mit lebendigem Geist zu erfüllen? Ich denke ja. Ich denke es sogar mit aller Entschiedenheit, obgleich mir als Zuhörerin der Vorträge und Diskussionen sowie auch als Teilnehmerin zahlreicher Gespräche die ungeheure Macht des Missverstehens, des Vorurteils, der Angst vor Infragestellung des Bewährten und nicht zuletzt auch die Kraft der Eitelkeit entgegentraten. Und zwar auf beiden Seiten. Manchmal in trotziger Verweigerungshaltung, oftmals verbunden mit dem Gestus des Bescheidwissens oder in Form der Abwehr bereits erfolgter Irritationen. Der unermüdliche thematisierte Geist des Verstehens, des offenen Dialogs, des Hereinlassens des nicht nur vorgestellten, sondern leibhaftigen und für sich selbst sprechenden Anderen erwies sich deshalb eher als ein verschämter Teilnehmer dieser Tagung. Er musste es sich gefallen lassen, vom Zufall regiert zu werden, der eine verstohlene Begegnung vor der Toilettentür oder an der Speisetheke fügte. So eroberte der heiß begehrte Dialog zwar durchaus sein Terrain, aber eben eher in den weniger ausgeleuchteten Winkeln dieses Forums, in privaten Einzelgesprächen, in kleineren Tischrunden, bei denen der Wein die Herzen etwas weicher spülte und die Blicke ihre hypostasierende Macht einbüßten, mit der wir uns, um es mit Sartre zu sagen, gegenseitig die Welt rauben. Die sich in filigraner Linie abzeichnende gemeinsame Welt, das Entstehen eines Zwischen, eines Raums der Pluralität gilt es nun zu wahren. Das Gespräch verlangt nach Fortsetzung und muss sich getrauen aus dem Dunkel ans Licht der Sonne zu treten. Ich möchte hierzu einen kleinen Beitrag leisten, nicht indem ich den durchaus vorhandenen Geist der Versöhnung beschwöre und die Missklänge abzudämpfen versuche, sondern genau umgekehrt, indem ich im Nachhinein nochmals auf einige Dinge zu sprechen kommt, die mir augenfällig werden ließen, wie tief verankert unsere Vorurteile sind und wie sehr sie uns daran hindern können mit Wachsamkeit in der Gegenwart zu stehen. „Will man Vorurteile zerstreuen, so muß man immer das in ihnen enthaltene vergangene Urteilen erst einmal wieder entdecken, also eigentlich ihren Wahrheitsgehalt aufzeigen. Geht man an diesem vorbei, so können ganze Bataillone von aufklärenden Rednern und ganze Bibliotheken von Broschüren nichts erreichen, (...)“, schreibt Hannah Arendt. So sind auch die vorgefassten Meinungen, mit denen Philosophen und Psychotherapeuten sich am vergangenen Wochenende entgegentraten, keineswegs ohne Wahrheitsgehalt, sondern zielen jeweils auf vulnerable Punkte und blinde Flecken, das heißt auf gewisse berufsspartenspezifische Deformationen, die in der ein oder anderen Tradition – wie ich meine – augenfällig werden können. Doch nicht zu vergessen ist: Die einzelnen Vertreter der Psychotherapie und Psychiatrie einerseits sowie die Philosophen und philosophischen Praktiker andererseits sind nicht als Exemplare einer jeweils suspekten Spezies anzusehen, sondern als gleichermaßen denkende Wesen, gleichermaßen begabt die Kunst der Selbstreflexion zu verfehlen oder zum Gelingen zu führen. Um meinen Standpunkt zu verdeutlichen, möchte ich etwas konkreter auf den Vortrag von Frau Fintz und die sich daran anschließende Diskussion eingehen, einfach deshalb weil gerade hier das Missverstehen eklatant wurde. Es erschien mir – und dies ist nur meine subjektive Wahrnehmung – als habe sich bei diesem letzten Vortrag in der Seele des ein oder anderen bereits eine tiefe Enttäuschung darüber eingenistet, dort nicht wahrgenommen zu werden, wo man um Verstehen ringt. Die seltsame Dynamik von Verstehensprozessen, die darin liegt über das Nichtverstanden- oder Nichtgesehenwerden auch die eigene Verstehensfähigkeit einzubüßen, trug das Ihre dazu bei. Es handelt sich hierbei um einen Mechanismus der Seele, gegen den weder der in hohem Maße empathiegeschulte Psychologe noch der Philosoph als erklärter Gegner des Mechanistischen gefeit zu sein scheinen. Die von Anette Fintz mit Jaspers vorgenommene Abgrenzung zwischen Erklären und Verstehen war keineswegs als Abgrenzung zwischen dem, was Psychotherapeuten tun und dem, was Philosophische Praktiker tun, gedacht. Vielmehr wollte sie als Philosophische Praktikerin Jaspers Auseinandersetzung mit den anthropologischen Konzepten etwa der Medizin oder der Psychoanalyse seiner Zeit dazu nutzen, die besondere, für eine gute Psychotherapie unerlässliche Qualität des Verstehens herauszustellen und zu umreißen. Jaspers sprach dabei als Philosoph, Mediziner und Psychiater in Personalunion, also in genauer Kenntnis der unterschiedlichen anthropologischen Grundauffassungen der jeweiligen Disziplinen. Er wollte darauf aufmerksam, dass das naturwissenschaftlich-mechanistische Menschenbild nicht hinreicht, wenn es darum geht, einem seelischen Leiden zu begegnen. Dass sich die Psychotherapie heute in weiten Bereichen längst unter dem Einfluss vor allem existenzialistischen Philosophierens von einer am Wissenschaftsdenken orientierten Haltung verabschiedet hat, steht außer Frage. Es ging also keineswegs darum seitens der Philosophie einen Generalverdacht gegen die Psychotherapie auszusprechen, sondern darum, nochmals ein Bewusstsein für die Risiken reduktionistischer Verfahren wachzurufen und diesbezüglich ins Gespräch zu kommen. Im Fokus philosophischer Praxis steht die Frage nach der Freiheitsfähigkeit des Menschen im Verhältnis zu dem, was gemeinhin als psychische Störung oder Krankheit bezeichnet wird. Die Freiheitserfahrung interessiert dabei sowohl im Blick auf ein intaktes Selbstempfinden als auch in ihrer Relevanz für therapeutische Wirksamkeit und Nachhaltigkeit. Bildet Freiheit den Kern des Menschlichen, so gleicht jede Begegnung zwischen Berater und Klient einer Neuergründung, die sich nur bedingt auf ein erprobtes Wissen und auf bewährte Methoden verlassen kann. Der Freiheit des Anderen können wir nur folgen, nicht vorausgehen, sie eröffnet einen Abgrund der Kontingenz und Erneuerung, den niemals empirisches und nur manchmal intuitives Wissen überbrückt. In der Abschätzung des Unwägbaren bei einem Menschen richtig zu liegen, trifft wohl genau das, was mit Verstehen gemeint ist. Anders als das Erklären reduziert es den Einzelnen nicht auf das Maß einer durch komparative Allgemeinheit gesicherten empirischen Kenntnis des Menschlichen. Mit anderen Worten: Die empirisch erworbene Kenntnis des psychischen Apparats, die experimentell erprobte Funktionsweise des Seelischen suggeriert Verallgemeinerbarkeit und Objektivität. Sie vernachlässigt die Individualisierungsmacht des menschlichen Geistes, die nicht nur Gleiches ungleich werden lässt, sondern zudem eine Praxis permanenter Distanzierung und Wiederaneignung umreißt. Sich ins Verhältnis zu setzten, permanente Zwiesprache mit sich selbst zu halten, gleichermaßen Betrachter und Schauplatz undurchsichtiger Wirkmechanismen zu sein, verweist auf einen dialogischen Kraftakt, der das Kerngeschäft gelungener Beratungs- und Therapiepraxis ist. Der Berater oder Therapeut ist dabei eine Art Komplize, der genau so viel Bewegung ins Spiel bringen sollte, wie sein Klient zu verkraften vermag. Dies erfordert eine Reihe außerordentlicher Kompetenzen: Einfühlsamkeit, geistige Agilität und Einfallsreichtum im Auffinden situativer Denkanstöße, vor allem aber die Fähigkeit bedingungslos anwesend zu sein ohne sich selbst in den Vordergrund zu stellen. Die intensive Wahrnehmung des eigenen Erlebens bildet dabei einen wesentlichen Schlüssel für den Aufbau einer Beziehung zum Anderen, doch nur dann, wenn dieses innere Erleben so weit als möglich Abstand gewinnen kann gegenüber den eigenen Belastungen und Vorprägungen. Eine solche Kompetenz ist – und hier ist der Forderung der Psychotherapie bedingungslos zuzustimmen – nur durch einen intensiven Prozess der Selbsterfahrung zu erlangen. Eine Freiheit gegenüber der Eigenmächtigkeit seelischer Mechanismen erreichen wir nicht, indem wir philosophierend an ihnen vorbeiagieren, sondern indem wir dieselben so genau als möglich in den Blick nehmen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass gerade der ins Korsett dunkler Seelenkräfte eingeschnürt bleibt, der allzu vermessen auf die Eigenmacht des Vernünftigen setzt und sich deshalb diesbezüglich keiner Prüfung unterzieht. Es ist infolgedessen weniger – wie von einem Teilnehmer der Tagung angemerkt – die frühkindliche Erfahrung einfühlsamer Zwischenmenschlichkeit, die uns zu guten Beratern macht, sondern vielmehr die Bereitschaft zu der eben umrissenen Radikalität geistiger Selbsterforschung. Die Lebensgeschichte Carl Rogers’, des Begründers empathiegeleiteter Gesprächstherapie selbst, mag hier in aller Kürze als Anschauungsbeispiel dienen. So erlebte Rogers eine eher freudlose Kindheit in der Atmosphäre einer kompromisslos nach „hohen Standards einer christlich-tugendhaften Lebensführung“ ausgerichteten Familie. Obwohl er sich durchaus geliebt wusste, litt sein Selbstwertgefühl unter dem „kontrollierenden und abwertenden Ton“ innerhalb der Familie und Kirchengemeinde. Hier wie dort vermisste er Verständnis und persönliche Nähe und um den ständigen Sticheleien und der Kritiksucht seiner Umgebung zu entgehen, zog er sich in eine kindliche Welt der Abenteuerliteratur zurück. Trotz dieser Negativität des Elternhauses, die ihn emotional sein Leben lang belastete, führte ein Prozess der Selbstreflexion Rogers schon bald dazu, für eine neue methodische Praxis der Psychotherapie zu streiten und das von ihm vertretene Konzept humanistischer Psychologie selbstbewusst sowohl gegen den Behaviourismus als auch gegen die Psychoanalyse zu vertreten. Man kann also mit Fug und Recht behaupten, dass hier die Entbehrungen der Kindheitsphase keineswegs zur Verarmung der Persönlichkeit führten, sondern im Gegenteil ein auf Freiheit, Kreativität und tiefes Verständnis hinzielendes Denken und Handeln einleiteten. Natürlich spielte in dieser Entwicklung Rogers die bewusst durchlaufene Selbsterfahrung sowie auch in Krisenzeiten die Akzeptanz therapeutischer Hilfe eine maßgebliche Rolle. Diese Bereitschaft, sich selbst in vertrauensvolle Obhut eines oder mehrer anderer Experten der Seele zu begeben, mag ein die philosophische Souveränität beleidigender Anspruch sein. Ohne sie kann aber – so meine Behauptung – ein philosophischer Praktiker nicht wirklich gut werden. Jaspers, ein genauer Kenner der Pathologien der Seele, ging es nicht darum, lange vor der Geburtsstunde der Philosophischen Praxis die Philosophen zu besseren Therapeuten zu erheben, sondern allein darum den Szientismus im Selbstverständnis der Psychotherapie seiner Zeit fragwürdig werden zu lassen. Eine Zurückweisung der geistigen Herausforderung zur Freiheit macht sich – so müssen wir erkennen – bemerkbar wie Sand im Getriebe einer Seelenmaschine, die wir immer auch sind. Wir stellen das Denken nicht ungestraft ein sowie wir auch der konfliktträchtigen Auseinandersetzung mit der Welt nicht ohne schwere Verluste ausweichen können. Unsere Freiheit wahrzunehmen, ist im Wesentlichen ein denkerisches Unterfangen und als solches unbedingt zu rehabilitieren. Genau hier finden philosophische Praxis und Psychotherapie ihr Betätigungsfeld und genau hierin sollten sie auch zueinander finden. Um diese Annäherung zu bewerkstelligen, gilt es auf beiden Seiten Empfindlichkeiten abzubauen und den Blick auf die eigenen Defizite auszuhalten. Erleben wir auf der einen Seite eine manchmal idiosynkratische Abwehr der Philosophen gegen das sogenannte Psychologisieren und das damit verbundene Aufzeigen bestimmter Grundmuster menschlichen Verhaltens, so ist auf der anderen Seite eine gleichermaßen reizbare Psychologenhaltung wahrzunehmen, die nicht selten der gedanklichen Provokation mit dem Hinweis auf einen lebensgeschichtlich bedingten Hochmut des Philosophen begegnet, dessen Kerngeschäft ohnehin in einer Verkennung des Irrationalen bestehe. Wie Hannah Arendt, mit deren Gedanken ich meinen Text nun auch beenden möchte, schreibt, bedingt nur der Geist das Individuelle, während der „seelische Untergrund“ unserer individuellen Erscheinung immer der gleiche ist. Ebenso wie die Medizin voraussetzt, dass die Organe von Mensch zu Mensch in etwa gleich aufgebaut sind, setzt auch die empirische Psychologie auf die Gleichheit ihrer Gegenstände. Doch das Hineinwirken des Geistes in die seelische Sphäre untergräbt die Vereinheitlichung mehr noch als die wechselnden Lebensbedingungen, unter denen wir agieren. In der Geistigkeit liegt für Arendt die Möglichkeit in der Selbstrepräsentation bewusste Entscheidungen zu treffen: „Wenn man sich dafür entscheidet, so reagiert man nicht bloß auf irgendwelche Eigenschaften, die einem gegeben sind; man entscheidet sich bewusst zwischen den verschiedenen Verhaltensmöglichkeiten, die einem die Welt bietet. Aus solchen Entscheidungen erwächst schließlich das, was man Charakter oder Persönlichkeit nennt, (...)“ Es ist mithin der Geist, das Denken in einem nichtkognitiven, nichtspezialisierten Sinne, wodurch ein Mensch Identität und Kontinuität zu gewinnen vermag. Ein solches Denken ist aber nach Arendt „kein Vorrecht der wenigen, sondern eine stets bereitliegende Fähigkeit jedes Menschen; entsprechend ist die Denkunfähigkeit nicht ein Mangel an Hirn bei den vielen, sondern eine stets bereitliegende Möglichkeit bei jedem - auch bei Wissenschaftlern und Gelehrten und anderen geistigen Spezialisten.“ Nehmen wir hinzu, dass Arendt an dieser Stelle das Denken in erster Linie als einen dialogischen Verkehr mit sich selbst kennzeichnet, dem Menschen jedweder Couleur immer wieder auszuweichen suchen, so verbietet sich jede berufsbezogene Beanspruchung dieses Vermögens. „Gedankenlosigkeit ist nicht Dummheit, sie findet sich bei hochintelligenten Menschen“ – und weil das so ist, bietet ein Philosophenleben keine Garantie fürs Denken. Es kann gleichermaßen „schlafwandlerisch“ verlaufen wie das Leben eines jeden anderen. Diese tiefe Einsicht Arendts ist ein Ort, an dem Berater und Therapeuten sich begegnen und verbinden müssen. Gegen die in den wissenschaftlichen Disziplinen fest verankerte Macht der Gedankenlosigkeit muss sich richten, wer das menschliche „Antlitz“ wahren und es nicht „wie ein Gesicht im Meeressand“ verschwinden sehen will.