Freitag, 30. September 2011

Text - Heike Freimann und Heidemarie Bennent-Vahl

Heike Freimann und Heidemarie Bennent-Vahle

Dialog zum Thema Bildung und Beratung

A: Ich habe generell kein Problem damit, mir vorzustellen, dass Philosophie bildet. Lehrveranstaltungen, Seminare, Vorträge, all` dies trägt zweifelsohne zur Erweiterung des Bildungshorizontes bei. Weniger klar ist mir allerdings, was Beratung mit Bildung zu tun hat.
B: Verstehen wir Bildung als eine primär intellektuelle Schulung, dann ist dieser Bildungsbegriff für die Beratung wohl kaum passend. Was wir hier unter Bildung verstehen können, ist in jedem Fall komplexer und wäre eher mit dem Begriff der Persönlichkeitsbildung zu umreißen.
A: Ist Bildung im wohlverstandenen Sinne nicht immer Persönlichkeitsbildung?
B. Es gibt im institutionellen Bereich sicherlich sehr unterschiedliche Bildungsbegriffe, denen wir uns aus philosophischer Sicht mehr oder weniger anschließen können. Beschränken wir uns zunächst auf die Beratung. Wenn wir hier über Bildung nachdenken, müssen wir die Besonderheit der Beratungssituation herausheben, die sich deutlich abhebt von den Rahmenbedingungen der institutionellen Bildung.
A: Ja, das denke ich auch, denn wer eine Beratung aufsucht, gibt damit doch zu verstehen, dass er nicht mehr weiter weiß, dass er also in seiner persönlichen Lebensgestaltung verunsichert ist und nicht nur ein denkerisches Problem hat.
B. Damit sagen Sie etwas sehr Wichtiges: Der Ratsuchende ist ein Mensch in der Krise und damit eine Person, die vor allem gefühlsmäßig erschüttert ist, sich nicht selten sogar in einem emotionalen Ausnahmezustand befindet. Von daher stellt er für den Berater eine gänzlich andere Herausforderung dar, als derjenige, der nach einem Bildungserlebnis sucht. Der Berater muss deshalb auch besondere Fähigkeiten besitzen, die mehr voraussetzen als bloß philosophisch-akademische Bildung.
A: Ja, auch ich denke, dass man für eine solche Aufgabe sehr viel Einfühlungsvermögen benötigt, ein besonderes Augenmerk für die Befindlichkeit eines Menschen. Und gerade deshalb frage ich mich, ob Philosophen, deren Denken doch auf Verallgemeinerung, das Erkennen und Darlegen von Strukturen, auf Abstraktion also zielt, dazu geeignet sind. Denn Einfühlung bedeutet doch, dass man sich für das bloß Subjektive, Individuelle, ja Kontingente interessieren muss. Außerdem verlangt dies sehr viel Langmut, man muss sich zurücknehmen können, auch in dem, was man glaubt, durch lange Studien schon alles über den Menschen zu wissen. Also, wenn ich es recht bedenke, sind Philosophen nicht eher ungeeignet dazu???
B: Sicherlich, ich muss Ihnen insoweit Recht geben, als die philosophische Schulung große Gefahren in sich birgt. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass vor allem die neuzeitliche Entwicklung der Vernunft zur Folge hat, dass das eigentliche Geschäft des Philosophen zu sehr in den Dienst der Welt- und Selbstbemächtigung gestellt ist.
A: Aber ich dachte immer, dass es genau darum geht in der Philosophischen Praxis, um Selbstmächtigkeit, d.h. um die autonome Gestaltung des eigenen Lebens?
B: Ja, das ist schon richtig, es muss darum gehen, dass Menschen ihr Leben führen und nicht gelebt werden. Aber dies lässt sich, wie ich meine, eben nicht dadurch erreichen, dass ich von der Ebene allgemeiner Erkenntnisse über den Menschen, über Lebenskunst oder über ethisch gerechtfertigtes Verhalten Menschen anleite, dies oder jenes zu tun. Es wäre auch falsch, die affektive Verflochtenheit eines Menschen ins Leben und die damit verbundenen Leiden nur als zu Überwindendes anzusehen, wie es vielfach in der Philosophie geschieht. Vielmehr geht es darum, gerade die affektive Betroffenheit, die in Krisensituationen unübersehbar wird, zum Ausgangspunkt der Selbstbegegnung werden zu lassen, mithin gerade hier einen Schlüssel der Selbsterkenntnis und angemessenen Problementfaltung zu suchen.
A: Das gefällt mir sehr gut. Sie meinen also, dass das, was man bei den meisten Philosophen findet, die Abwertung des Gefühlslebens und auch der leiblichen Regungen, die als philosophisch unmaßgeblich angesehen werden, für die philosophische Praxis so nicht mehr gelten kann?
B: Nein, schon deshalb nicht, weil nur – und das gilt allgemein – die subjektive Gefühlserfahrung uns die Dinge so nahe bringt, dass sie wirklich werden und sich vom bloß Ausgedachten und bloß Theoretischen unterscheiden, das heißt, dass wir allein über das Gefühl die Dinge als uns zugehörig und damit überhaupt erst begreifen. Denken Sie nur an den trivialen Tatbestand, dass Menschen immer nur aus eigenen Fehlern lernen und höchst selten aus den klugen Reden anderer.
A: Was bedeutet das nun für den philosophischen Berater? Muss er da nicht psychologisch geschult sein?
B: Es muss auf jeden Fall von seinem erhabenen Ross herab. Er muss bereit sein, nicht immer schon Bescheid zu wissen, sondern sich angehen, sich berühren zu lassen, sich unmittelbar der Erfahrung auszusetzen. Nur so kann es ihm gelingen, einen Dialog zu initiieren. Verstehen Sie mich nicht falsch, es geht hier nicht um ein Betroffenheitsgerede oder irgendeine Gefühlsduselei. Es geht darum, Gefühle und Atmosphären, d.h. das, was wir an uns selber, am anderen und in der Situation erspüren, in seiner Bedeutung für Verstehen und Missverstehen anzuerkennen. Um dies erreichen zu können, muss der Berater m. E. einen Prozess der Selbsterfahrung durchlaufen haben, denn nur, wer sich selbst etwas besser kennt, kann anderen begegnen. Anders gewendet ließe sich sagen: wer Selbsterfahrung generell als zu psychologisch und womöglich als für Philosophen ehrenrührig abtut, läuft Gefahr, von den eigenen unerkannten, irrationalen Bestrebungen eingeholt zu werden. Dies könnte Folgen haben, von denen die harmloseste wäre, dass der Berater an seinem Gegenüber vorbeiredet. Ein Dialog ist aber sicherlich nicht möglich.
A: Knüpfen wir da noch einmal an. Was macht den Dialog aus, was macht ihn möglich? Wie steht dies in Zusammenhang mit dem, was Sie affektive Betroffenheit nennen?
B: Ein Dialog setzt voraus, dass ich den Intellektuellenhabitus des Bescheidwissens hinter mir lasse, das heißt auch, dass ich nicht mehr ausschließlich die Beobachterperspektive einnehme, sondern mit meinem Gegenüber in einen gemeinsamen Prozess eintrete, an dem ich auch emotional beteiligt bin und nicht nur als Experte des Denkens. Der philosophische Berater hält also mit sich selbst nicht hinterm Berg, wie es in vielen Psychotherapien geboten ist. Dies könnte er nur, wenn seine Arbeit in einer fallbezogenen Anwendung fertiger Lösungsmuster und Methoden bestünde. Sucht er aber jeweils neu in einen denkerischen Zusammenhang einzutreten, der ihm von seinem Gegenüber aufgegeben wird, dann kann er dies nur als ungeteilte Persönlichkeit. A: Sie sagen, der Berater müsse die Haltung des Bescheidwissens überwinden. Verstehe ich richtig, dass Sie damit meinen, er müsse all sein Wissen, seine Vorannahmen und Einschätzungsmuster ablegen und quasi als unbeschriebenes Blatt in den Beratungsprozess eintreten?
B. Grob gesagt, ja.
A. Diesen Anspruch halte ich für völlig unrealistisch. Es ist unmöglich, Wissen und Kenntnisse, einmal etablierte Wertvorstellungen sowie Vorlieben und Abneigungen qua Entschluss einfach abzulegen wie ein überflüssiges Kleidungsstück. Die Reinheit der Erfahrung, die Sie anzustreben scheinen, ist eine Illusion und die Auffassung, auf diesem Wege einer Sache näher zu kommen ist selbst eine Theorie, deren Geltungsanspruch zu prüfen wäre.
B. Ich akzeptiere Ihren Einwand und möchte das Gemeinte genauer fassen. Es geht darum, das, was eine Person in der Beratung mitzuteilen sucht, nicht durch ein schon angelegtes Wissen zu verstellen und zu verschleiern. Es geht deshalb um einen Haltungswandel, nicht darum, tabula rasa zu machen. Dies wäre, wie Sie sagen illusorisch. Der von mir angesprochene Haltungswandel bedeutet, dass ich mich dem Geheimnis öffne, das jedes individuelle Bewusstsein darstellt, dass ich mithin dem abschließenden Urteilen und Kategorisieren entsage.
A. Gerade das erschient mir unmöglich. Ohne Rückbezug auf die in mir angelegten Kriterien nehme ich doch wohl eher gar nichts wahr.
B. Es ist auch eher so zu verstehen, dass ich die sich unweigerlich in mir einfindenden Gedanken, Urteile und Gefühle betrachte und dennoch in Distanz zu mir halte, um aufmerksam zu bleiben. Wenn Sie mit gutem Recht sagen: „Erfahrung ist immer theorie-gelenkt.“, dann füge ich hinzu: der Berater kann sich der Individualität seines Gegenübers nur zuwenden, indem er sein Wissen als hypothetisch und unvollständig begreift. Es ist die Basis, von der aus er fragt, nicht die Basis des Urteilens. Allerdings – und das sehe ich vielleicht anders als manch anderer Berater – muss man im Interesse wacher Aufgeschlossenheit für einen anderen Menschen die eigene Denkweise sowie auch – davon sprach ich schon – die eigene Gefühlswelt gerade besonders gut kennen. Hier berühren wir wieder das Terrain der Selbsterfahrung.
A. Und welche Rolle spielt dabei die philosophische Wissenstradition?
B: Es ist schon wichtig, dass der Berater eine sehr gute Kenntnis seines Faches besitzt, aber nicht um zu dozieren, das heißt, er lehrt nicht diese oder jene Position, die für ein Problem relevant sein könnte, noch weniger subsumiert er die Sache seines Besuchers einer Problemfigur XY, die schon Platon. Epiktet etc. bedacht hat. Vielmehr wird in der gemeinsamen Situation der Beratung und durch sie die Lebenssituation bzw. das Problem des Besuchers erhellt, wobei durch den Dialog „das Ausmaß des möglichen Umdenkens“ erweitert werden kann. Außerdem bietet die philosophische Tradition neben den sogenannten Klassikern, noch eine Reihe anderer, weniger bekannter Denker, die sich stärker der partikularen Erfahrung des Einzelnen zuwenden und die dessen gefühlsmäßigen Lebensverstrickungen nicht nur als Souveränitätseinbuße und Kränkung der Vernunft begreifen.
A: Und bieten diese Texte auch Sinnangebote, die der Berater nutzen kann?
B: Ich denke, ein Berater sollte sich nicht als Sinngebungsinstanz verstehen, sondern als einen ernstzunehmenden Partner, mit dem man über Sinnfragen sprechen kann. Sinn ist wohl kaum verallgemeinerbar und oftmals erschließt sich ein Sinn, wie viele autobiografische Betrachtungen zeigen, erst rückwirkend. Er scheint genau da auf, wo er nicht gesucht oder angestrebt wurde, was die Vermutung nahe legt, dass sich Sinn überhaupt nicht gezielt anstreben lässt – auch das eine Frage für das philosophische Gespräch. Sicher aber möchte ich behaupten, dass das Gelingen des Dialoges in der Beratung als ein Akt der Sinnstiftung anzusehen ist.
A: Und noch eine letzte Frage, die auf unseren Ausgangspunkt zurückweist. Ist das Gelingen eines Beratungsgespräches auch ein Bildungsereignis?
B: Ich denke schon. So wie wir den Dialog umrissen haben, bedeutet er einen nicht objekthaften Umgang der Gesprächspartner miteinander. Anders ausgedrückt: sie sehen sich jeweils als Personen an, deren Wesentliches nicht objektivierbar ist, sondern vielleicht als eine Kraft der Freiheit und Selbstbestimmung umschrieben werden könnte. Dies umschließt auf beiden Seiten die Fähigkeit Hin- und Herzuschwingen zwischen Selbstwahrnehmung, denkerischer Selbstentfaltung und Selbstgestaltung. Bildung in diesem Sinne wäre also prinzipiell unabschließbar, also eine Kunst des Umgangs mit sich selbst und anderen, die natürlich einen großen Einfluss darauf hat, welchen Positionen und letztlich auch welchen Weltbildern wir uns anschließen. Der wirklich ungebildete Mensch wäre vor diesem Hintergrund nicht derjenige, der wenig weiß, sondern derjenige, der sich beharrlich an seine Überzeugungen klammert, der in der Kontroverse monologisiert und vorschnell der Versuchung zum Zerwürfnis nachgibt.